Streit-Kultur. Journal für Theologie

Streit-Raum

Streit-Kultur eröffnet neben dem jährlich erscheinenden Heft am 31. Oktober 2024 den Streit-Raum: Ein Forum, in dem frei zugänglich auf aktuelle theologische, kirchliche und gesellschaftliche Kontroversen reagiert werden kann. Es kommen gegensätzliche Positionen zu Wort, bewusst knapp und pointiert.

Auch Entgegnungen wird Raum gegeben. Es besteht die Möglichkeit, binnen eines Monats nach Freischaltung sachorientierte Repliken oder Forumsbeiträge (maximal 6.000 Zeichen inklusive Leerzeichen) zu den Themen- und Fragekreisen einzusenden. Sie werden vor einer möglichen Veröffentlichung von der Herausgeberin und den Herausgebern geprüft.

Streit-Raum 1: Zur Zukunft des Theologiestudiums

Johann Georg Puschner – „Der Fleissige Student“, Universität Altdorf um 1725 (Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8818133))
Johann Georg Puschner – „Der Fleissige Student“, Universität Altdorf um 1725 (Gemeinfrei)

Zunehmende Kirchenaustritte und schwindende Theologiestudierenden-zahlen alarmieren. Die Ursachen hierfür sind umstritten. Es gibt Stimmen, die dem Theologiestudium selbst Schuld daran geben, dass es nur mäßig nachgefragt wird. Aber auch für das gesellschaftliche Desinteresse an kirchlichem Handeln soll es verantwortlich sein. Vermutlich ist jedoch das Umgekehrte der Fall. Denn eine wenig attraktive Kirche zieht keinen Nachwuchs an.
Jedenfalls steht die Frage im Raum, was eigentlich der Kern des Theologiestudiums sei und wie dieser angemessen zur Geltung komme. Hierüber befinden sich die evangelisch-theologischen Fakultäten und Institute in Deutschland in kontroversem Austausch untereinander und mit den Landeskirchen. Es wird darüber gestritten, ob oder inwiefern das Theologiestudium einer Reform bedarf, die seiner Sache gerecht wird. Hierbei steht viel auf dem Spiel. Es ist unbedingt zu vermeiden, dass der Bedeutungsverlust der Kirche einen Niveauverlust der Theologie provoziert, der beiden schadete.

Im ersten Streit-Raum, den die Herausgeberin Anne Käfer und der Herausgeber André Munzinger verantworten, wird die Zukunft des Theologiestudiums diskutiert. Es positionieren sich zu den Fragekreisen 1. Was ist des Studiums Kern?, 2. Wie hältst Du’s mit den Sprachen? und 3. Wie hältst Du’s mit BA/MA?

Eve-Marie Becker (Professorin für Neues Testament | Universität Münster), Mehr Theologie wird gebraucht! Auf der Suche nach Gott und Freiheit im Umbau.

Thomas Kaufmann (Professor für Kirchengeschichte | Universität Göttingen), Widerstandspflicht

Joachim Kunstmann (Professor für Religionspädagogik | Pädagogische Hochschule Weingarten), Theologiestudium für heute

Jörg Lauster (Professor für Systematische Theologie | Universität München), Theologiestudium morgen

 

Einsendeschluss für Repliken – auf einen, mehrere oder alle Debattenbeiträge – ist der 30. November 2024. Später eingesendete Beiträge werden nicht berücksichtigt. Die Beiträge werden von der Herausgeberin und den Herausgebern der Streit-Kultur geprüft: Die Zeichenzahl von maximal 6.000 Zeichen inklusive Leerzeichen ist nicht zu überschreiten. Der Bezug zu den drei Fragen und den Themen muss erkennbar sein. Inhaltlich ist eine mit guten Gründen versehene Sachorientierung erbeten. Die Beiträge werden dann zum 15. Dezember 2024 veröffentlicht.

Einsendungen bitte per E-Mail an: philipp.david[at]evtheologie.uni-giessen.de

Mehr Theologie wird gebraucht! Auf der Suche nach Gott und Freiheit im Umbau. (Eve-Marie Becker, Münster)

  1. Was ist des Studiums Kern?

Ob ich heutzutage Evangelische Theologie studieren würde? Schwer zu sagen. Damals, nach meinem Abitur 1991 in Limburg an der Lahn, als der sog. Eiserne Vorhang gerade gefallen war und die lastenden Bedrohungen in Europa und der Welt mitsamt ihren Folgeerscheinungen wie Tschernobyl 1986, die meine Kindheit und Schulzeit mitbestimmt hatten, von uns abgefallen zu sein schienen, eröffnete das Studium der Evangelischen Theologie den fröhlichen und freiheitlichen Weg zu einer Begegnung mit einer kleinen Universität inmitten einer großen und vielfältigen. Verschiedene fachliche Interessen, die sich besonders in der Oberstufenzeit abgezeichnet hatten, ließen sich mit dem Studium der Evangelischen Theologie verbinden, ja realisieren: von der Erforschung der altorientalischen und griechisch-römischen Welt zu abendländischer Kunst- und Musikgeschichte oder Fragen je aktueller religiöser Kommunikation oder Medizinethik. Ein Studiengang, der zugleich die Welt der multiperspektivisch-pluralen academia eröffnet und miteinander verknüpft, löste mein Dilemma, mich zwischen Sprachen, Literatur, Geschichte, Philosophie oder den naturwissenschaftlichen Interessen, die die Leistungskurse in der Abiturzeit gefördert hatten, entscheiden zu müssen. „Derjenige muss Theologie studieren, den das Nachdenken über Gott nicht loslässt“, so lernte ich in meinen ersten Studiensemestern in Marburg. Daran hat sich nichts geändert! Gerade den älteren akademischen Lehrern in Marburg – akademischen Lehrerinnen begegnete ich dann erst später in meinem Studium in Erlangen – war nicht zuletzt aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und den durch ihn heraufbeschworenen Katastrophen geradezu existenziell bewusst, dass Theologie immer auch Ideologiekritik ermöglicht und in die Freiheit des Denkens führt. Hatten interessanterweise insbesondere meine Lieblingslehrer und -lehrerinnen in der Schulzeit die Freiheit ihres Denkens in Atheismus und Agnostizismus begründet, so lernte und erlebte ich im Studium: Sapere aude! ist von der Evangelischen Theologie, die keine Tabuzonen zulässt, nicht nur erlaubt, sondern gefordert. Alleine schon aus Gründen der Ideologiekritik und des Strebens nach schonungsloser Aufklärung arglos oder listig trüber Gedanken würde ich auch heute ein Studium der Evangelischen Theologie neugierig froh beginnen und denen, die nach Gott und Freiheit suchen, dazu raten, Ebensolches zu tun.

 

  1. Wie hältst Du‘s mit den Sprachen?

Die Sprachen – Hebräisch, Griechisch, Latein – haben mir in mehrfacher Weise den Weg in das Innere der Evangelischen Theologie erschlossen. Im kirchengeschichtlichen Proseminar übersetzten wir eine nicht in Übersetzung vorliegende Ablassinstruktion – mein schulisches Latein wurde so erprobt und weitergeführt. Im Griechischkurs, der zur Abitur-Ergänzungsprüfung führte, entstanden nicht nur wertvolle Freundschaften zu Studienbeginn. Ich erinnere das erste Weihnachtsfest mit Graecum genau und meine Freude, Lk 2 nun selbst in seiner lukanischen Urfassung lesen und übersetzen zu können. Ähnliches gilt für Hebräisch. Die Sprachen erschließen nicht nur die Texte in ihrer vermuteten Originalfassung, sondern auch die Denktraditionen hinter den Psalmen, die Erinnerungsformen von Geschichtserzählungen und die alltäglichen Artikulationsweisen von Menschen vor mehreren tausend Jahren, denen wir zumindest im Geiste begegnen können. Mit dem Spracherwerb wurden wir ernsthafte Kommilitoninnen und Kommilitonen unserer akademischen Lehrer: gleichberechtige Gesprächspartner beim Ringen um das sachgemäße Verstehen einer von Beginn an polyglotten Theologie in ihrer Geschichte. Die Bibel und ihre Auslegung – und mit ihr die Evangelische Theologie – leben geradezu vom Vorgang der ständigen Übersetzung! Philologische Ambition und Kompetenz erwiesen sich auch im Laufe meines weiteren akademischen Weges als mehrspuriger Highway: Die Beherrschung der antiken Sprachen der Theologie, zu denen im Übrigen zumindest auch Aramäisch, Koptisch oder Syrisch zählen würden, fördert die Sorgfalt im Umgang mit der eigenen Muttersprache sowie das Interesse an all den modernen Sprachen und ihren Eigenheiten, denen wir anderswo begegnen und die die internationale Vernetzung vor unsere Haustür trägt. Spracherwerb ist Freiheitsgewinn. Oder theologisch zugespitzt: Wer nicht zu Studienbeginn Latinum, Graecum und Hebraicum zu erwerben hat, wird es fortan schwer haben, from within zu erfassen, warum der Logos Fleisch werden musste (Joh 1,14).

 

  1. Wie hältst Du‘s mit BA/MA?

Die Freiheit meines Studiums mit Abschluss: „Evangelische Theologie: Kirchliches Examen“ konnte ich seinerzeit mit der Möglichkeit der Nachdiplomierung nutzen und wünsche mir – frei nach Paulus –, alle Menschen wären so wie ich und hätten gleiche Möglichkeiten (1 Kor 7,7). Doch seit meiner Studienzeit sind etwa 30 Jahre vergangen. Studienordnungen setzen Rahmen unter geänderten Bedingungen. Zu fragen ist: Was genau hat sich seither verändert? Solche Rahmen sollten nie um ihrer selbst willen, schon gar nicht um der Gremien willen gesteckt werden, sondern den Erfolg des Studiums gewährleisten und fortan zu sichern helfen. Diesseits des Rahmens wird ein Ermöglichungsraum, Theologie zu studieren, abgesteckt; nach außen dient der definierte Rahmen von Studienordnungen dazu, Vergleichbarkeit nachprüfbar und Leistungsnachweise dokumentierbar zu machen. Diese Rahmen sind gleichwohl nicht als Mauer fest in der Erden zementiert, sondern bestehen aus verschiedenen Materialien und können umgebaut werden. Die Diskussion über BA/MA empfinde ich als Umbauprozess, der gleichwohl einem Balanceakt gleicht. Denn der Ermöglichungsraum für das Studium der Theologie darf durch keine Studienordnung beengt oder verstellt werden. Was ich meine? Es braucht auch künftig fundierte philologische Kompetenz im Umgang mit dem „Wort Gottes“ von Studienbeginn an; es braucht nach wie vor Zeit zur Vertiefung in die anspruchsvollen Themen der Theologie, die vor die Geburt des Menschen zurückführen und über seinen Tod hinausreichen; es braucht auch weiterhin solides methodisches Rüstzeug wie auch die Freiheit bei der Wahl der Studienschwerpunkte; es braucht noch viel entschiedener den Leistungswillen, mehr zu lernen – seien es Vokabeln, Bibeltexte oder Konzilszahlen. Die Suche nach der „größeren Gerechtigkeit“ der Christus-Glaubenden (Mt 5,20) darf gerne den Anspruch einschließen, mehr zu wissen und mehr zu suchen. Jeder Rahmen, der den Ermöglichungsraum für das Studium der Theologie im Geiste dieses qualitativen „Mehr“ auf fundierter Wissensbasis eröffnet, ist willkommen. Denn weniger Wissen und Können wird nicht und von niemandem gebraucht. Evangelische Theologie hat in Deutschland für Jahrhunderte akademische und wissenssoziologische Maßstäbe gesetzt: Noblesse oblige – auch heute.

Widerstandspflicht (Thomas Kaufmann, Göttingen)

1) Das Studium der Evangelischen Theologie in Deutschland ist das Ergebnis spezifischer politischer, konfessioneller und wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungen; im Kern reichen sie ins Zeitalter der Reformation zurück. Denn damals wurde in einem um 1600 weitgehend abgeschlossenen Prozess etabliert, was seither selbstverständlich geblieben ist: Dass ein Pfarrer an einer Universität studiert hat, nicht nur in den artes dicendi (Rhetorik, Dialektik), sondern auch in Exegese, Dogmatik und der patristischen Literatur geschult ist und mit den drei ‚alten Sprachen‘ umgeht. Der Kern des Studiums besteht seit dem 16. Jahrhundert – ungeachtet theologiegeschichtlicher Nuancierungen und Evolutionen – darin, sich mit Geschichte, Gehalt und Gestaltwerdungen des Christentums in der Perspektive einer selbstverantworteten Positionierungsfähigkeit zu befassen. Wer Theologie studiert, strebt an, im kirchlichen und öffentlichen Raum für das Christentum einzutreten und sich bei seiner Existenz als Christ behaften zu lassen. Theologiestudium ist eine lebenslange Aufgabe; die Studienzeit weist in diese reflexive Dauerpraxis ein. Ein wesentliches Ziel des Studiums besteht darin, das eigene Lebensverhältnis zum christlichen Glauben reflexiv weiterzuentwickeln; wer sich während eines Theologiestudiums in seiner Frömmigkeit nicht verändert, hat falsch studiert. Als ein wesentliches Ziel meiner unterrichtlichen Tätigkeit habe ich immer empfunden, Theologiestudentinnen und -studenten mit dem inneren Variantenreichtum des Christentums, den sich in seiner Geschichte offenbarenden Alternativen in Hinblick auf Lehre und Lebensformen, vertraut zu machen und quasi im Modus historischer Annäherungen für differente Frömmigkeitsstile zu sensibilisieren. Spätestens seit konstantinischer Zeit ist ‚die Kirche‘ – im Unterschied zur ‚Sekte‘ – keine ‚homogene‘ Gesinnungs- und Lebensgemeinschaft, sondern ein Ort der Vielen, der Verschiedenen, jedermanns. Unbeschadet des Mitgliederschwunds unserer Tage hat sich daran im Prinzip nichts geändert. Deshalb ist es erforderlich, dass ein Pastor / eine Pastorin mit unterschiedlichen religiösen Stilen umzugehen vermag und davon absieht, einen eigenen Stil aufzuoktroyieren. Diese reflexive Distanzierungs- und Selbstrelativierungskompetenz erfordert Kritikfähigkeit – nicht zuletzt auch gegenüber sich selbst. Die intellektuell schonungslose, methodisch kontrollierte Umgangsweise der Evangelischen Theologie mit ihren ehrwürdigsten, ja ‚heiligsten‘ Gegenständen zielt im Kern darauf ab, religiöse Wahrheitsressourcen so zu entschärfen, dass sie für das Gemeinwesen verträglich sind. Das unterscheidet unsere reflexiv kultivierte Form von Religion von jeder Form des Fundamentalismus.

 

2) Der ureigenste Gegenstand der Theologie ist sprachlich verfasst. Theologie zu treiben bedeutet, die eigene Sprachfähigkeit zu entwickeln, zu erweitern, sprachlich sensibler zu werden, in eine polyglotte Sprachgemeinschaft, die seit mindestens zwei Jahrtausenden existiert und die zum Teil aus der ihr vorgängigen Sprachgemeinschaft Israels hervorgegangen ist, einzutreten. Von einer Sprache in eine andere zu übersetzten, fördert das Verstehen für das Gemeinte, nötigt zur vertieften Reflexion seines Sinns und impliziert einen transkulturellen Aneignungsprozess. Indem man die textlichen Grundlagen des christlichen Glaubens in Gestalt ihrer ursprünglichen oder frühen Sprachgestalten studiert, werden sie distanziert und verfremdet und erhalten so die Chance, in neuer Weise nahe zu kommen, zu sprechen und angeeignet zu werden. Insofern sind die alten Sprachen ein unverzichtbares Moment der reflexiven Distanzierung als Kernaufgabe aller Theologie. Dies betrifft freilich nicht nur biblische Texte; auch das Studium anderer theologischer Texte etwa auf Latein oder auf unterschiedlichen Sprachstufen des Deutschen schafft Distanz und ermöglicht Begegnung. Sollte die neuerliche Attacke auf die alten Sprachen erfolgreich sein, würde sie dazu führen, dass künftige Pastorinnen und Pastoren von der bis ins 18. Jahrhundert prägenden und allgegenwärtigen sprachlichen Formation unseres Kulturkreises, Lateineuropas, definitiv abgetrennt wären. Sie könnten die Inschriften und Grabsteine in ihren Kirchen nicht lesen; sie wären unfähig, ältere Akten zu studieren, sie wären außer Stande, die Bedeutung der Sonntagsnamen zu erklären – elementare Unbildung in Bezug auf eine lebendige Überlieferung, die eineinhalb Jahrtausende ‚unserer‘ Geschichte geprägt und bestimmt hat, wäre die Folge. Für mich wäre das ein Verbrechen – vergleichbar Eltern, die ihren Kindern jeden Zugang zu ihrer Familiengeschichte jenseits der eigenen Gegenwart verweigern. Eine Kirche, die sich im Präsentismus suhlt, aber wird an Alternativlosigkeit verenden.

 

3) Vor etwa 20 Jahren gelang die Abwehr der BA-MA-Struktur für das Pfarramt dank eines breiten Konsenses zwischen Kirchen und Fakultäten; ihn auf breiter Front durchzusetzen war ein großer Erfolg. Anhand der Erfahrungen mit den Lehramtsstudiengängen bin ich nachdrücklich davon überzeugt, dass dies richtig war. Denn die modulare Studienstruktur und die konsekutive Prüfungspraxis führt am Ende dazu, dass das jeweils ‚Abgeprüfte‘ als ‚erledigt‘ gilt. Vor dem Hintergrund der gegenwärtig erlebten digitalen Transformation unserer Kultur, des veränderten Lese- und Lernverhaltens, der gewandelten Aufmerksamkeitsökonomie, der sich transformierenden Konzentrationsfähigkeit u. v. a. m., erscheint es mir wichtiger denn je, dass wir eine Studienstruktur verteidigen, die persönliche Entwicklungsprozesse fördert und in einen lebenslangen kreativen Umgang mit theologischen Wissensbeständen einweist. Die Einführung der BA-MA-Struktur wird in absehbarer Zeit dazu führen, dass wir Pastorinnen und Pastoren auf dem akademischen Schrumpfniveau eines BA erhalten werden, eines Theologen im Anfangsstadium, der lebenslang auf diesem Niveau verharren wird. Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen. Noch ist die Theologie innerhalb der Universität ein anerkanntes akademisches Fach. Sollten die Reformvorstellungen des GK I-Papiers, die sich in eine bedrückende Geschichte des stetig gewachsenen Bedeutungsgewinns des Faches „Praktische Theologie“ einfügen, umgesetzt werden, wird es um die Reputation der Theologie an der Universität geschehen sein. Deshalb empfinde ich den Widerstand gegen die ruinösen Reformpläne als Pflicht.

Ein Theologiestudium für heute (Joachim Kunstmann, Weingarten)

Zur Lage der Theologie

Seit Jahren diskutiert man darüber, ob bei den stark sinkenden Studierendenzahlen nach wie vor Latein, Griechisch und Hebräisch gelernt werden müsse. Die Antwort ist vorhersehbar: selbstverständlich muss man. Sollte man aber nicht unbedingt auch Aramäisch und Altägyptisch voraussetzen, damit die Bibel auch wirklich verstanden wird? Fragen wie: Wo lernt ein Student eigentlich die Sprache der Gegenwart? Wo lernt er eine religiöse Sprache?, tauchen da nicht auf.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass man zwar historisch-kritische Exegese lernt, im Pfarramt viele die Bibel dann aber als mehr oder weniger wörtlich zu verstehendes Dokument der göttlichen Offenbarung behandeln. Die Sprachendiskussion trägt da zunehmend absurde Züge.

Bereits im Jahr 2001 hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt in einer bemerkenswerten Rede auf den Abwärtstrend kirchlicher Zahlen verwiesen und verwundert bemerkt, dass das nirgendwo diskutiert werde; statt dessen: „business as usual“. Das lässt sich auf das Theologiestudium übertragen: es stellt eine Mischung aus Philologie und historischer Forschung dar, auch in der Systematik, während die Praktische Theologie am Rand bleibt. Es ist vergangenheits- und komplett Insider-orientiert. Gott spricht in der Bibel – also ist es lange her, dass ihn jemand vernommen hat. Muss man sich wundern, dass das Christentum in allen einschlägigen Umfragen (ausgenommen die Insider-orientierten EKD-Erhebungen) als überholtes Museumsstück gilt?

Die bedrückend wenigen Studienanfänger, die noch kommen, sind – vorsichtig gesagt – keineswegs mehr die kulturelle Elite. Das alles macht sehr deutlich: hinter den Zahlen steht ein Imageverfall, der diesen erst antreibt. Wer heute Theologie studiert, muss sich erstaunte Fragen anhören. Es ist dringend überfällig, den rasanten Bedeutungsverfall des Christentums klar zu benennen und offen zu diskutieren. Er ist in seiner Geschichte ohne Beispiel und wird in Kürze Folgen für die theologischen Fakultäten haben. Was muss das Theologiestudium angesichts dieser Lage leisten?

 

Zielvorstellungen für ein zeitgemäßes Theologiestudium

Die derzeitige Lage stellt massive Rückfragen an das gängige Studium, das mehr als nur Retuschen braucht. Offensichtlich gelingt es den ausgebildeten Theologen kaum, das Christentum plausibel nach außen hin – also zur weit überwiegenden säkularen Mehrheit – zu vertreten. Ob das nach innen hin gelingt, lasse ich einmal offen. Das Studium bildet zu einer profunden Kenntnis der christlichen Tradition, also des historischen Christentums aus, für das sich, pointiert gesagt, kaum jemand noch interessiert.

Wenn das auch nur annähernd stimmt, dann muss das Theologiestudium seine Insider-Logik aufbrechen, das Kreisen um die eigene Traditionsvergangenheit. Religiöse Vergewisserung entsteht schon lange nicht mehr durch die Orientierung an Vorgaben! Die gegenwärtige Religiosität, das religiöse Verstehen heute, die Säkularisierung müssen zentrale Themen sein.

Eine Zielvorstellung des Studiums könnte daher sein: die christliche Religion kompetent vertreten können – nach innen ebenso wie nach außen. Es geht um religiöse Kompetenz, die wird auch erwartet! Und die umfasst liturgische Kompetenz und religiöse Rede ebenso wie einen kompetenten Umgang mit religiöser Erfahrung, und vor allem: (christliche) Religion muss als übergreifende Lebensdeutung für die Erfahrungen und Fragen der Menschen heute verstanden und eingesetzt werden können, denn das ist die „Systemrationalität“ der Religion.

 

Eine Skizze

Der Fächerkanon kann beibehalten werden, muss aber dringend ergänzt und entsprechend entrümpelt werden:

  1. Hermeneutik: Diese ist weit wichtiger als die Sprachenfrage und muss mehr sein als historische Exegese. Was Bibel, Bekenntnisse und Reformatoren sagen, ist Niederschlag religiöser oder existenzieller Erfahrung, ergo zeitgebunden. Das bedeutet eine klare Kritik der evangelikalen Logik, auch wenn (oder gerade weil) diese von den Landeskirchen unterstützt wird. Die ist eine religiöse Sackgasse, die den Bedeutungsverlust der Religion gerade vorantreibt. Endlich darf die grundlegende Frage nicht mehr einfach beiseite geschoben werden: basiert das Christentum eigentlich auf der Botschaft des Jesus (Reich Gottes, Liebe) oder auf Paulus (Sünde, Gnade, Glaube, Gericht, Auferstehung)? Das ist wahrlich nicht dasselbe Fundament.
  2. Religionstheorie: Religion und religiöse Traditionen sind nicht dasselbe. Letztere können entleert sein und unverständlich werden und einer lebendigen Religiosität auch schaden. Traditionen sind Vergewisserungsgrund, Traditionalismus ist die Grundgefahr jeder kulturell etablierten Religion. Die massive Religionskritik des Jesus (Sabbatheiligung, lange Gebete, Priester, Tempel, Pharisäer usw. überzieht er mit teils heftiger Polemik!) muss endlich religiös ernst genommen, die Problematik von Glaubenslehren reflektiert werden. Hierher gehört auch die Apologie: man muss klare Argumente für (christlich-)religiöses Verstehen und Deuten kennen, also die Logik der Religion verstehen.
  3. Religiöse Kompetenz: Wissen um religiöse Erfahrung, religiöse Entwicklung, Spiritualität (i. S. etablierter religiöser Praxisformen) und gekonnte Liturgik sind für das Studium essenziell. Mindestens ebenso wichtig wie die Kenntnis der eigenen Tradition ist die Fähigkeit, in ihrem Sinne heutige Erfahrungen zu deuten und zu symbolisieren.
  4. Gegenwartskompetenz: neben soziologischem und psychologischem Grundwissen muss ein Wissen um positivistisch-naturwissenschaftliches Denken (und seine Alternativen), um säkulare Lebensführung (und ihre Probleme), ein Studium existenzieller Fragen und Erfahrungen heutiger Menschen (Erfolgswille, Sinnverlust, Erschöpfung, Ängste…) sowie deren kompetente christliche symbolische Deutung zum Kern des Studiums gehören. Nur so bleibt das Christentum lebendig.

Die Frage nach BA und MA scheint mir neben diesen grundsätzlichen Anfragen nebensächlich. Man kann sich da durchaus anpassen, warum auch nicht. Das Problem sind die vielen Prüfungen, die die Motivation vermindern.

Theologiestudium morgen (Jörg Lauster, München)

  1. Was ist des Studiums Kern?

Die Theologie hat sich in ihrer großen Geschichte nie zu einer eindeutigen Antwort durchringen können, ob sie eine theoretische oder eine praktische Wissenschaft ist. Das ist auch gut so. Sie lebt aus dieser Spannung, und diese macht sie erst interessant. Hoch fliegt die Theologie über den alltäglichen Dingen des Daseins und widmet sich den letzten und großen Fragen. Woher kommen wir, wohin gehen wir, warum sind wir hier? Sie ringt um Antworten im Lichte der christlichen Tradition. Sie stellt sich hinein in den langen Fluss einer Denkbewegung von Menschen, die daran glauben, dass in der Person Jesus Christus das Göttliche in der Welt sichtbar wird, und die sich fragen, was daraus für sie selbst, für das Verständnis von Menschsein, für das Verständnis der Welt folgt. Wie sollen wir leben, wenn in diesem Menschen wirklich das Göttliche erschienen ist?

Darin liegt der praktische Aspekt, der die Theologie immer auch zu einer praktischen Wissenschaft macht. Die Theologen des Mittelalters verstanden unter Praxis Wege zur Gottesschau. Die Aufklärung hat viele Federn gerupft, darunter auch diese. Schleiermacher reagierte und ermäßigte die Theologie zu einer Funktion, die zur Kirchenleitung befähigt. Von der Gottseligkeit zur Kirchenleitung, das ist gewiss ein tiefer Fall, aber zugleich auch eine redliche Selbsterniedrigung der Theologie. Anleitung zur Gottesbegegnung – das überschreitet bei weitem, was Wissenschaft an Universitäten leisten kann und soll. So ist der Kern des Studiums heute, im Lichte der großen Erfahrungen des Christentums Menschen auszubilden, damit sie in Kirche, Schule und Gesellschaft Tür und Tor öffnen, um andere Menschen an den großen Themen des Daseins im Lichte des Christentums teilhaben zu lassen.

 

  1. Wie hältst Du’s mit den Sprachen? 

Dass man zur Bewältigung dieser Aufgabe gemessen an den akademischen Standards unserer Zeit die wichtigsten Quellen, aus denen das Christentum die Kraft seiner Antworten bezieht, im Original studieren sollte, ist wünschenswert. Dass man sich dazu heute in einigen Fällen bis zu sieben Semester durch Hebräisch, Griechisch und Latein quälen muss, ist hingegen nicht mehr zeitgemäß. Um ein Gespür für die philologische Erschließung von Quellen und die Arbeitsschritte wissenschaftlicher Exegese zu bekommen, reicht es aus, dies an einer biblischen Sprache durchzuexerzieren. Für die beiden verbleibenden anderen, also entweder Griechisch oder Hebräisch und Latein sollte man im Zeitalter von ChatGPT mehr Fantasie aufbringen und nach Wegen suchen, die Studierenden funktionale Sprachkenntnisse vermitteln und originalsprachliche Verifizierungen möglich machen. Theologie ist nicht Philologie. Studierende müssen nicht Platon, Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquin oder Melanchthon im Original lesen, um an den Schatz ihrer Gedanken zu gelangen. Es gibt exzellente Übersetzungen, und wir sollten froh sein, wenn diese gelesen und studiert werden. Und wenn dann noch hier und da ein Blick ins Original möglich ist, um so schöner, um so besser.

 

  1. Wie hältst Du’s mit BA/MA?

Bei der Formel BA/MA verlieren in der Theologie oftmals vernünftige Persönlichkeiten die Fassung. Es ist ein Rätsel, woher diese emotionale Aufladung kommt. Sie hat offensichtlich etwas mit Verlustängsten, Vergangenheitsglorifizierung und Zukunftsdepression zu tun.

Natürlich gibt es berechtige Einwände gegen die Bologna-Reform. An ihr ist wahrhaft nicht alles gut, ihre merkantile Grundausrichtung ist sogar ein echtes Übel. Aber die trotzige Ablehnung von Seiten einiger in der Theologie – de facto ist es inzwischen nicht mehr als eine laute Minderheit, das hat der Fakultätentag in Abstimmungsergebnissen gezeigt – ist vergangenheitsorientiert und letztlich destruktiv. Diese Haltung träumt von einer Sonderstellung der Theologie, die sie schon längst verloren hat.

Dieser Verlust ist ein Gewinn. Die guten, alten Zeiten, das hieß auch, 17 und mehr Semester Theologie ohne Plan, ohne Ziel, ohne Struktur. Die Umstellung auf BA/MA hilft, Studierende nicht länger mit einer uferlosen Stofffülle zu erdrücken, die alles eigene Nachdenken im Keim erstickt. Sie gewährt bessere Möglichkeiten, klare Lernziele zu formulieren und das Theologiestudium danach zu ordnen. Zudem ermöglicht die Umstellung, dass sich die Theologie in den Verbund der Disziplinen an den Universitäten integrieren kann. Wenn die Theologie sich in dieses System einbringt und daran mitwirkt, BA/MA-Programme zu verbessern und innerhalb des vorgegebenen Rahmens mehr intellektuelle Freiräume zu schaffen, kann sie am Ende als universitäre Disziplin nur gewinnen. Es erhöht ihre internationale und interdisziplinäre Anschlussfähigkeit und damit auch die Attraktivität des Faches an Universitäten.

Ob es so kommt? Die Theologie in Deutschland ist im Moment nicht reformierbar. Die einzelnen Disziplinen ringen mit ihren Verlustängsten. So wird beispielsweise die Exegese bis zum letzten Blutstropfen um den Erhalt ihrer Stellen kämpfen, obgleich es gemessen an den heutigen Herausforderungen zu viele sind, zu viele jedenfalls in der Art, wie Exegese heute betrieben wird. Der Fakultätentag versinnbildlicht diese Unreformierbarkeit. Auch wenn ihn, wie gegenwärtig, die klügsten und besten Vertreter ihrer Disziplinen leiten, es wird sich dort immer und immer wieder der Chor der Ewig-Gestrigen erheben und noch bis weit über den Jüngsten Tag hinaus über BA/MA oder Magister/Kirchliches Examen diskutieren wollen. Hinter dieser Verzögerungstaktik steckt nichts anderes als der Wunsch, dass alles so bleibt, wie es ist.

Die Idee einer einheitlichen Regelung durch einen Konsens in der Theologie ist tot. Es schlägt die Stunde der Landeskirchen und Fakultäten, die sich auf regionaler Ebene zu mutigen Schritten entschließen und Modellprojekte initiieren können, die gemessen an den heutigen Herausforderungen versuchsweise besser und stärker den Kern der Theologie ins Zentrum rücken. Wer etwas wagt, kann Fehler machen, das ist wahr, wer jedoch nichts tut, gibt auf. Das hat die Theologie nicht verdient.